Das Gehirn, Meister der Ablenkung

Frontal, temporal, zentral, parietal, okzipital – damit Ergebnisse auch international vergleichbar sind, hat jede der 32 in der EEG-Haube integrierten Elektroden einen festen Platz. Um die Hirnaktivitäten besser messen zu können, verstärkt eine Paste zwischen Kopfhaut und Elektrode das Signal. Foto: Matthias Piekacz
Die Schallkabine im Kinderlabor am LIN schirmt akustische und elektromagnetische Störungen ab. Während die Kinder einen Film ihrer Wahl sehen, werden in regelmäßigen Abständen verschiedene unerwartete Geräusche eingespielt. Dabei reagiert das Gehirn eher auf emotionale Stimuli wie beispielsweise einem Babyschrei. Meeresrauschen hingegen gilt als neutral. Foto: Matthias Piekacz
Damit Ängste gar nicht erst aufkommen, erklärt das Forschungsteam den Kindern im Vorhinein genau, wie das Experiment funktioniert. Dabei assistiert ihnen ein kleiner Panda mit EEG-Haube, das Maskottchen des Labors. Für Besuche in Kindertageseinrichtungen nutzt das Team zudem einen mobilen Eyetracker, der das Interesse für Emotionen an den Augen ablesen kann. So wird die Größe der Pupille nicht allein durch Helligkeit bestimmt, auch bei plötzlichen emotionalen Ereignissen weitet sich das Sehloch. Foto: Matthias Piekacz
Was im Inneren des Gehirns geschieht, lässt sich unmittelbar am Monitor beobachten. Jede einzelne Elektrode sendet ein Signal, das je nach Störgeräusch mal mehr, mal weniger stark ausschlägt. Anhand des Differenzsignals kann das Forschungsteam Rückschlüsse auf die Aufmerksamkeitsprozesse im Gehirn ziehen. Die Schwierigkeit: Das EEG misst auch Muskelartefakte, die durch Spontanaktivitäten wie Zwinkern, Stirnrunzeln oder Lachen entstehen. Diese werden bei der Auswertung in sorgfältiger Kleinstarbeit extrahiert. Foto: Matthias Piekacz
In ihrer seit 2017 vom Center for Behavioral Brain Sciences geförderten Forschungsgruppe Neurokognitive Entwicklung am Leibniz-Institut für Neurobiologie untersucht Prof. Dr. Nicole Wetzel, wie sich neuronale Mechanismen für Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und das Gedächtnis bei Kindern entwickeln. Seit Oktober hat die Kinderpsychologin die Professur für Neurokognitive Entwicklung inne. Mit ihrer Berufung partizipieren auch Studierende der Rehabilitationspsychologie, Kindheitswissenschaften und künftige Kita-Leitungen an ihren Studien. Foto: Matthias Piekacz

Aus treffpunkt campus Nr. 101, 01/2019

Konzentriertes Arbeiten ist nicht immer einfach. Vor allem wenn es unerwartet laut wird – sei es durch einen Schrei oder das Bellen eines Hundes –, ist unser Fokus schnell woanders. Dabei fällt es Kindern deutlich schwerer, ihre Aufmerksamkeit zu kontrollieren, weiß Prof. Dr. Nicole Wetzel. Welche neuronalen Mechanismen dahinterstecken und wie wir Kindern das Lernen erleichtern können, untersucht die Psychologin am Leibniz-Institut für Neurobiologie.

Interview: Katharina Remiorz

Sie erforschen, welche neuronalen Mechanismen in Kindern und Erwachsenen vorgehen, wenn diese aufmerksam sind oder sich einem anderen Reiz zuwenden. Inwieweit ist dieses Wissen darum so wertvoll?
Bei vielen Lernprozessen ist es wichtig, sich auf das Relevante zu fokussieren und irrelevante Informationen zu ignorieren. Wenn wir das nicht können, haben wir Probleme beim Lernen, was sich wiederum auf die kognitive, soziale oder motorische Entwicklung auswirken kann. Wenn wir wissen, wie die neuronalen Mechanismen, die der Aufmerksamkeit zugrunde liegen, funktionieren und wie sie sich entwickeln, können wir beispielsweise Lernumgebungen und Aufgabenstrukturen entsprechend gestalten und dem individuellen Entwicklungsstand anpassen. Auch im klinischen Bereich, beispielsweise bei der Behandlung von ADHS, könnten unsere Forschungsergebnisse eine wichtige Rolle spielen.

Was weiß man bisher über die Entwicklung kognitiver Aufmerksamkeit im Kindesalter?
Die verschiedenen Gehirnareale entwickeln sich im Laufe der Kindheit unterschiedlich schnell. So reift der Präfrontallappen, der an vielen kognitiven Kontrollprozessen beteiligt ist, recht spät – er entwickelt sich bis ins junge Erwachsenenalter. Wir gehen davon aus, dass sich auch Aufmerksamkeitskontrollprozesse entsprechend langsam entwickeln könnten. Kinder können sich gegen Störgeräusche weniger gut abschirmen als Erwachsene. In einer aktuellen Studie, in der wir Kindergarten- und Grundschulkinder miteinander verglichen haben, konnten wir beobachten, dass im Alter zwischen vier und sechs Jahren eine massive Entwicklung der Aufmerksamkeitskontrolle stattfindet, die im Grundschulalter fortgeführt wird.

Wie setzen Sie Ihre Studien praktisch um?
Unterschiedliche Ereignisse können zu einer unterschiedlichen Ablenkung der Aufmerksamkeit führen. Wir vermuten, dass Faktoren wie Motivation, Emotion und der soziale Kontext dabei von besonderer Bedeutung sind. Der Einfluss dieser Faktoren auf Aufmerksamkeitsprozesse hängt vermutlich vom Entwicklungsstand ab. In unseren Studien variieren wir diese Einflussfaktoren. Eine aktuelle Studie zeigt beispiels- weise, dass emotionale Störgeräusche wie ein Babyschreien Kinder stärker ablenkt als neutrale Störgeräusche.

Wie kann man sich ein typisches Setting vorstellen?
Um die neuronalen Mechanismen zu erfassen, nutzen wir eine Haube mit EEG-Elektroden, die die Gehirnaktivität misst. Wir lenken die Aufmerksamkeit der Kinder auf eine Aufgabe, das kann beispielsweise ein Film sein. Zusätzlich spielen wir unerwartete Geräusche ein und messen die Hirnaktivität, die diese Geräusche auslösen. Hieraus können wir Schlussfolgerungen ziehen, in welchem Ausmaß und mit welcher Geschwindigkeit diese Störgeräusche verarbeitet werden und wie sie die aufgabenrelevanten Prozesse behindern. Daneben setzen wir auch psychologische Tests ein und arbeiten mit dem Eyetracker, ein Gerät, das Blickbewegungen und Veränderungen in der Pupille misst. Unsere Pupille reagiert nämlich nicht nur auf Lichteinflüsse, sondern reflektiert auch kognitive Prozesse.

Sie lehren seit Oktober letzten Jahres am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften. Wie profitieren die Studierenden von Ihrem Wissen?
Dass eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und eine Hochschule eine gemeinsame Professur initiieren, ist etwas Besonderes und eine wunderbare Chance, grundlagenbezogene und anwendungsorientierte Forschung mit- einander zu verbinden. Mir geht es vor allem um den Transfer in die Praxis und umgekehrt um die Entwicklung von Fragestellungen aus der Praxis heraus. Im Studiengang „Leitung von Kindertageseinrichtungen – Kindheitspädagogik“ haben wir uns beispielsweise Ursachenmodellen von ADHS gewidmet. Die Rückmeldung der Studierenden zeigte, dass solche Gespräche helfen, das Verhalten eines betroffenen Kindes in ihrer Gruppe noch besser zu verstehen und die Arbeit im Kindergarten oder Hort entsprechend zu gestalten. Daneben haben die Studierenden aber auch die Möglichkeit, die Wissenschaftspraxis in Form von Exkursionen, Praktika und im Rahmen von Abschlussarbeiten kennenzulernen.

Kinderstudien am LIN
Eltern, Kindertageseinrichtungen und Schulen, die die Forschung gern unterstützen möchten, können sich an das Leibniz-Institut für Neurobiologie wenden: kinderstudien@lin-magdeburg.de

Mehr Forschungsgeist im Forschungsmagazin „treffpunkt forschung“ und im Hochschulmagazin „treffpunkt campus“

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