Wahrnehmung ohne Filter

Grafik: istock

Aus treffpunkt campus Nr. 101, 01/2019

Ein hupendes Auto hier, grelle Scheinwerfer dort und unzählige Fahrzeuge, mal mehr, mal weniger drängelnd trotz Schrittgeschwindigkeit. Der Feierabendverkehr auf deutschen Straßen ist wahrlich eine Zumutung, auch wenn wir bewusst wie unbewusst den Großteil dieser Reize filtern können – zumindest die meisten von uns.

Text: Sarah Krause

Schon seit 2013 forscht Dr. Sandra Konrad zum Thema Hochsensibilität. Seit Oktober hat sie die Vertretungsprofessur für Differentielle und Persönlichkeitspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal inne. Hochsensibilität sei ihr zufolge weder eine Störung noch eine Erkrankung. „Ich würde es eher als eine Temperamentseigenschaft bezeichnen“, so Konrad über die Veranlagung, bei der Menschen mehr Informationen als üblich aufnehmen, intensiver verarbeiten und dadurch schneller überfordert sind. Während die einen emotional reagieren, sind andere angespannt oder erschöpft.

Mensch als Ursache und Opfer

Wie genau Hochsensibilität entsteht, ist bislang nicht geklärt. Forscherinnen und Forscher gehen mittlerweile davon aus, dass eine Entwicklung uns zu 47 Prozent in den Genen liegt. Daneben fördern zur Hälfte auch äußere Einflüssen wie die Umwelt diesen Wesenszug, der fast jede dritte Person betrifft. Nicht selten bleibt diese Eigenschaft ein Leben lang unentdeckt. Da die Forschung noch ganz am Anfang steht, konzentriert sich auch Dr. Konrad auf die Grundlagen. „Unsere Gesellschaft wird immer komplexer, wodurch wir verstärkt mit unterschiedlichen Reizen konfrontiert werden. Dafür sind wir gar nicht konstruiert.“ Dr. Konrad ist überzeugt, dass deswegen immer häufiger Menschen zu einer Hochsensibilität neigen. Durch verschiedene Methoden wie beispielsweise dem Eye-Tracking sowie Einzel- und Fremdbefragungen versucht sich die Forscherin der Thematik zu nähern.

Zu viel von allem

Eine erste Studie entstand im Jahr 1997. Die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron entwarf einen Fragebogen mit vier Indikatoren, der auf Hochsensibilität schließen lässt. Ein Merkmal ist die niedrige sensorische Reizschwelle. Betroffene reagieren dabei eher auf äußere Einwirkungen, die die Sinnesorgane ansprechen und fühlen sich dadurch schneller unwohl. So ist der Straßenverkehr – mit viel Lärm, grellen Lichtern, schlechter Luft und Hektik – ein Ort, der einen hochsensiblen Menschen schnell überfordern kann. Der zweite Indikator beinhaltet die hohe Reaktivität auf psychische Reize. „Spielt sich um die Person herum viel ab, reagiert sie genervt oder gestresst“, erklärt Dr. Sandra Konrad. Ein weiteres Anzeichen für eine hohe Sensibilität ist in der stärkeren Verarbeitung von Informationen zu finden. Demnach reflektieren Hochsensible gewisse Situationen bzw. Tatsachen intensiver. Daneben kann auch ein zurückgezogenes Verhalten in überfordernden Situationen auf eine Hochsensibilität hinweisen.

„Wenn diese vier Indikatoren in einer höheren Ausprägung zusammenkommen, ist die Veranlagung wahrscheinlich“, macht Konrad deutlich. Aufbauend auf Arons Ergebnissen entwickelte die Psychologin einen neuen Fragebogen, der die ursprünglich vier Indikatoren in drei zusammenfasst. Auf einer Skala von null bis vier können Betroffene verschiedene Fragen darüber beantworten, wie sie in bestimmten Situationen reagieren: „Fühlen Sie sich genervt, wenn sich um Sie herum viel abspielt?“ oder „Haben Sie eine feine Wahrnehmung für unterschwellige Dinge in Ihrer Umgebung?“

Das Problem: Hochsensibilität weist viele Überschneidungen zu anderen Krankheitsbildern auf, wodurch eine Abgrenzung sehr schwierig ist. Eine starke Überschneidung gibt es zum Beispiel bei neurotischen Menschen, die sich ebenso empfindlich gegenüber ihrer Umwelt zeigen können. Hochsensibilität ist daher eine Facette aus verschiedenen Konstrukten.

Der richtige Umgang

Um mit der Veranlagung besser zurechtzukommen, rät die Forscherin, sich gesund zu ernähren sowie ausreichende Erholungsphasen einzuplanen. Menschen, die wissen, dass sie hochsensibel sind, sollten versuchen, sich aus überfordernden Situationen früher herauszuziehen. Gänzlich meiden sollte man Reize wie diese jedoch nicht: „Man muss sich dem Ganzen ein Stück weit stellen. Eine tägliche Exposition kann schon dazu beitragen, sich daran zu gewöhnen“, so Konrad. Auch ein Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen. Letztlich hat dieser Charakterzug aber auch positive Einflüsse. So können hochsensible Menschen sehr empathisch oder außergewöhnlich kreativ sein. Sowohl die Intensität der Merkmale, als auch die der charakterlichen Züge sind von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt.

Mehr Forschungsgeist im Forschungsmagazin „treffpunkt forschung“ und im Hochschulmagazin „treffpunkt campus“

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