In hoher Dosis tödlich

Karikatur: Phil Hubbe

Aus treffpunkt campus Nr. 88, 01/2016

In „Science” hat eine Forschergruppe unser Zeitalter jüngst als „Anthropozän” eingeordnet – wenige Dutzend Jahre, die den Sedimenten schon unsere Spur eingebrannt haben: Plastik, Fallout, Schwermetalle, Kohlendioxid. Unsere Lebensart wirkt dank hoher Motivation durch Habgier und Eitelkeit auf die Zerstörung unserer gemeinsamen Lebensgrundlagen hin, psychologisch gesprochen: auf die Plünderung der Allmende. Allmende ist, wovon wir alle leben – saubere Luft, berechenbares Klima, aber auch Vertrauen in andere Menschen und in Organisationen, Rechtlichkeit und Hilfsbereitschaft. Alle wissen um diese Gefährdung, nur manche wollen ihr Leben weitsichtig ändern. Was hindert uns?

Text: Prof. Dr. Thomas Kliche

Die Politikpsychologie spricht von Alltagsbewusstsein, wo Menschen Einsichten beiseite schieben, indem sie gängige Denk- und Redemuster aufgreifen. Alltagsbewusstsein kittet Gruppen, Organisationen und Gesellschaften fester zusammen: Es schafft Berechenbarkeit, hilft bei der Angstbewältigung und macht das komplexe Dasein gemütlicher, weil alles beim Alten bleiben darf.

Alltagsbewusstsein bietet eine Sammlung von Formeln zur Verharmlosung, Vereinfachung, Tabubildung. Erforscht wurde diese Art sozial anerkannter Blindheit für makrosoziale Bedrohungen wie den Atomkrieg, aber auch für tagtägliche Betriebskonflikte. Seine Kraft bezieht es aus Anpassungs- und Abwehrmechanismen, die wir ab der frühen Kindheit einüben, um vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu lernen und dadurch an Familie und Cliquen teilzuhaben, in Schule und Beruf unauffällig zu bestehen.

Ein paar Beispiele für Formeln des Alltagsbewusstseins:

  • Verharmlosung: „Ach, Klimawandel ist doch nett, da können wir länger baden gehen!” 


  • Berufung auf Mehrheiten: „Wir sehen doch alle: Wir leben ja noch! Und die anderen spinnen auch nicht rum wegen der paar Meter im Auto.” 


  • Verleugnung: „Da will mal wieder jemand mit dem Weltuntergang ins Fernsehen kommen.” 


  • Hoffnung auf die zupackenden Kumpel: „Da setzen sich einfach mal die Manager zusammen und regeln das von Mann zu Mann, dann läuft das.”

  • Abschieben an zuständige Fachleute, an Mächtige, an Professionen, an Einrichtungen: „Darum sollen sich mal die Politiker / die da oben / die Wirtschaftsbosse usw. kümmern, wir kleinen Leute können nicht viel tun.

  • Vermeintliche Einsicht ins Schicksal: „Da kann man doch sowieso nichts ändern.”

  • Vereinzelung von Störenfrieden: „Immer muss halt jemand meckern.” – „Der Klugscheißer glaubt, er weiß es besser.” – „Die sucht noch ihren Lebenssinn.” „Die sind noch jung, die dürfen noch übertreiben, die stoßen sich die Hörner schon noch ab.”

  • Idealisierung von Retter-Figuren: „Die Unternehmer gehen von sich aus ja professionell mit Risiko um, die Versicherungen reden auch noch ein Wörtchen mit, das regelt sich schon.” – „Wir brauchen mal wieder ein paar geniale Erfinder, dann bekommen wir einen Innovationsschub.”

Wir sehen, auch die Medien spielen wacker mit und helfen uns bei Selbstanpassung und Angstbewältigung durch Alltagsbewusstsein: Auf dieser letzten Formel beruhen fast alle Weltuntergangs- und Rettungsfilme, die wir praktisch täglich im Fernsehen bewundern können.

Hier endet die Psychologie, hier beginnt unsere Entscheidung für Vernunft. Unser Feind sind Bequemlichkeit, Gier und Feigheit. Warum sollen wir unser Leben ändern, Verantwortung für künftige Generationen übernehmen? Weil wir vernünftig sind, weil wir Gottes Geist atmen, weil wir an unseren langfristigen Eigennutz denken – egal! Denn Hochmut kommt meist vor dem Fall. Das lernt derzeit VW. Die Weitblickenden müssen zusammenhalten!

Viel ändert sich schon: Immer mehr Menschen verstehen die Bedeutung der Gemeingüter, immer mehr Organisationen richten Belohnungen für gemeinnütziges Verhalten ein, und sei es, dass sie bei der Personalauswahl auf bürgerschaftliches Engagement im Lebenslauf und andere Belege für Verantwortungsbewusstsein achten.

Gedanken sammeln, abwägen und bewerten – unsere Profs haben immer eine Meinung. Ihren Blick auf aktuelle Themen kannst du in unseren Kommentaren nachlesen.

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