Die Erste, die studiert

Viele Eltern strotzen vor Glück, wenn sich ihre Kinder für ein Studium entscheiden. „Meine Mutter war enttäuscht von mir“, gibt Lisa Virkus zu. Mit 16 Jahren trat sie eine Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten an und pflegte ein offenes Verhältnis zu Lehrenden der Berufsschule sowie Mitschülerinnen und Mitschülern. Daher weiß sie: Das Gehalt und die Arbeitsbedingungen, die sie in ihrem Beruf erwartet hätten, reichen ihr nicht aus. Foto: Matthias Piekacz

Aus treffpunkt campus Nr. 104, 04/2019

Lisa Virkus ist keine Soldatin, doch eine Kämpferin ist sie geblieben. Die Bundeswehr hat sie nach ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten verlassen. Denn von ihrem Berufsweg hat sie ganz eigene Vorstellungen. Vorstellungen, die sie auch gegenüber ihrer Mutter erst durchsetzen musste. Lisa ist in ihrer Familie die Erste, die studiert.

Text: Bianca Kahl

Gerade einmal 27 von 100 Kindern entscheiden sich in Deutschland für ein Studium, wenn die eigenen Eltern nicht studiert haben. Das sind die Ergebnisse einer Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Die Hochschule Magdeburg-Stendal fällt hier positiv aus dem Rahmen – zum Beispiel mit Lisa Virkus aus Wernigerode, die im dritten Semester Gesundheitsförderung und -management studiert – gegen den Willen ihrer Mutter. Ihre Geschichte zeigt, warum es „Arbeiterkinder“ manchmal schwerer haben als solche aus Akademikerfamilien.

Jobs und Sonderwünsche
„Meine Mutter war so stolz, als ihre beiden Töchter zur Bundeswehr gegangen sind“, erzählt die 21-Jährige. „Sicherer Arbeitsplatz, ein gutes Gehalt und anständige Berufe – mehr konnte sie sich gar nicht für uns wünschen.“ Die Mutter ist gelernte Gärtnerin und trägt heute in Wernigerode Zeitungen aus. In Lisas Kindheit hatte sie gleich mehrere Jobs, um alle Wünsche ihrer Kinder erfüllen zu können. Lisas Schwester lebt heute als pharmazeutische Fachangestellte bei der Bundeswehr ihren Traum. Doch sie selbst hatte schon immer ihren eigenen Kopf.

Bereits in der vierten Klasse wäre sie gern aufs Gymnasium gegangen. Doch die Mutter war dagegen. „Schreib lieber Einsen an der Sekundarschule, als dass du schlechte Noten am Gymnasium bekommst“, sagte sie damals zu ihrer Tochter. Statt das Abitur nachzuholen, ging es nach dem Realschulabschluss mit 16 Jahren zur Bundeswehr nach Berlin. „Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass sie mir damals das Abi ausgeredet hat. Jetzt weiß ich, was Arbeiten heißt, bin viel selbstbewusster und weiß die Freiheit und die Möglichkeiten meines Studiums sehr zu schätzen.“ Doch auch nach ihrer Ausbildung zur zahnmedizinischen Fachangestellten sollte ihr ein passendes Studium verwehrt bleiben. Die Antwort der Vorgesetzten, dass sie erst ein paar Jahre als Stabsunteroffizierin arbeiten könne und man dann weitersehe, reichte ihr einfach nicht aus.

Praxis schlägt Theorie

Lisa weiß ganz genau, was sie will: „Ich will Berufsschullehrerin werden und zwar verbeamtet.“ Doch ein Lehramtsstudium an der Uni ist ihr zu theoretisch. Der Studiengang an der Hochschule Magdeburg-Stendal sei hingegen sehr praxisorientiert und damit genau ihr Ding. Hinzu kommen die fairen Wohnungsmieten. „Fast alle meine Lehrerinnen und Lehrer an der Berliner Berufsschule haben hier studiert“, sagt sie. Das macht es allerdings nicht leichter. Um sich ihre Wohnung und ihr Leben finanzieren zu können, hat sie gleich zwei Jobs: Sie trägt viel Verantwortung im studentisch geführten Café FRÖSI und arbeitet zugleich in einer Fastfood-Kette. Diese Belastungen kennt sie schon aus der Zeit, als sie auf eigene Faust ihr Abi nachholte: immer spät zu Hause, wenig Schlaf, kaum Zeit zum Lernen. Durch eine Prüfung ist sie bereits durchgerasselt. Auch an die Art zu lernen, musste sie sich erst gewöhnen. „Beim Studium ist es ganz anders als in der Schule oder bei meiner Ausbildung.“

Auf eigenen Beinen stehen

In besonderen Härtefällen und bestimmten Lebenslagen hilft die Hochschule mit Entlastungsprogrammen wie dem „KomPass“. Mit dem Mentoringprogramm, Tutorien oder Tandempatenschaften erhalten Studierende auch persönliche Hilfe. Doch Lisa Virkus fühlt sich auch ohne Unterstützung stark genug. Sie will auf eigenen Beinen stehen und hatte bisher nicht das Bedürfnis, um Hilfe zu bitten. „Ich wollte das ja alles so und hätte auch eine andere Wahl gehabt“, sagt sie. „Ich muss gestehen, dass mir das Arbeiten Spaß macht und dass ich bei meinem Lebensstil keine Abstriche mache.“ Auf keinen Fall will sie ihre Familie bitten, sie finanziell zu unterstützen. Dennoch würde sie sich sehr freuen, wenn ihre Mutter irgendwann erkennt, welch schönes Leben ihre Tochter dank des Studiums einmal haben wird, und dass sie dann einsieht: Es lohnt sich, sechs Jahre kein festes Geld zu verdienen und sich mit Anfang 20 noch kein eigenes Auto leisten zu können. Dann zeigt sich, dass das Kind Recht hatte mit seiner Entscheidung.

 

Arbeiterkinder: Warum so wenige von ihnen studieren
Wenn die Eltern nicht studiert haben, dann ist das oft auch für die Kinder ausgeschlossen. Diese Bildungsungerechtigkeit geht die Initiative „Arbeiterkind“ an. Eva König, Mitarbeiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, erklärt im Interview mit Bianca Kahl die Hintergründe.

Aus welchen Gründen entscheidet man sich für oder gegen ein Studium?

Das ist individuell. Doch die Weichen für diese Entscheidung werden schon in der Kindheit gestellt – und zwar von den Eltern. In Sachsen-Anhalt entscheidet man sich zum Beispiel schon nach der vierten Klasse für oder gegen das Gymnasium und damit das Abitur.

Was glauben Sie, warum haben Eltern Vorbehalte gegen ein Studium?
Wenn Elternhäuser selbst keine Erfahrung damit haben, schätzen sie den Aufwand und die Kosten häufig zu hoch ein. Sie wollen lieber auf „Nummer sicher“ gehen und erwarten, dass ihre Kinder möglichst schnell Geld verdienen. Die vielen Möglichkeiten der Unterstützung sind meist gar nicht bekannt. Dabei gibt es nicht nur für die Einser-Schülerinnen und -Schüler Stipendien. Auf der anderen Seite wissen Eltern gar nicht, wie groß die Vorteile eines Studienabschlusses sind: Beschäftige mit akademischem Abschluss verdienen deutlich besser und werden nicht so schnell arbeitslos.

Wie hilft die Initiative „Arbeiterkind“?

Unsere Ehrenamtlichen informieren und ermutigen die Studieninteressierten mit ihren eigenen Erfahrungen. Betroffene kennen oft niemanden, den sie einfach mal ansprechen und befragen können. Auf unserer Webseite www.arbeiterkind.de gibt es allgemeine Infos, wie ein Studium abläuft, aber auch Tipps zu Auslandssemester, BAföG, Stipendien und Nebenjobs.

Kann ich auch persönlich Fragen stellen?
Na, klar! Von Montag bis Donnerstag schalten wir ein Infotelefon unter 030 / 679 67 27 50. Es gibt auch lokale Gruppen, die sich regelmäßig treffen. In Magdeburg ist das jeden vierten Dienstag im Monat ab 19.30 Uhr im Campustheater am Johann-Gottlob-Nathusius-Ring 5. Einfach hingehen, Gleichgesinnte treffen, Fragen stellen und Sorgen von der Seele reden!

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