Grenzen überschreiten

„Ich hatte mich für einen Studienplatz im Iran beworben. Angenommen habe ich ihn nicht.“ Tawfeek Alsheikh wollte nicht, dass seine Eltern jeden Monat hohe Studiengebühren für ihn zahlen. Er wollte unabhängig sein. Heute studiert er Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal und engagiert sich im Austauschprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“. Foto: Matthias Piekacz
Gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg, der jordanischen Al-Balqa´ University und der An-Najah National University in Palästina rief Prof. Dr. Rahim Hajji das Projekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ins Leben, das Studierende für Flucht sensibilisieren und den Austausch zwischen ihnen sowie Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft, der humanitären Hilfe und der Wohlfahrtshilfe fördern soll. Foto: Matthias Piekacz
Liebe geht durch den Magen, deshalb ist gemeinsames Kochen besonders hilfreich, um fremde Kulturen kennenzulernen und zu verstehen. Foto: Matthias Piekacz
 

Aus treffpunkt campus Nr. 104, 04/2019

Flucht stellt nicht nur in Europa ein brisantes Thema dar. Oft sind es die Nachbarländer der Kriegsgebiete, die von einer steigenden Flüchtlingszahl betroffen sind. Tawfeek Alsheikh hat beide Seiten kennengelernt: Gegen den Willen seiner Familie reiste der Syrer Ende 2015 nach Deutschland. In einem internationalen Austauschprojekt hilft er nun, die Soziale Arbeit im Umgang mit Geflüchteten zu professionalisieren. „Ich weiß, wie sich diese Menschen fühlen. Ich bin selbst ein Flüchtling.“

Text: Sarah Krause und Katharina Remiorz

Tawfeeks Eltern verkauften das Auto und gaben ihrem Sohn Geld für eine Reise, auf die sie ihn nie schicken
wollten. Doch es war allein Tawfeeks Wunsch, nach Deutschland zu gehen, um dort zu studieren. Über seine Flucht spricht der sonst so aufgeschlossene Syrer kaum. Eine Zeit, die ihn prägte und seither fest im Gedächtnis verankert ist.

Leicht hatte es der 20-Jährige zu Beginn keineswegs. Ein halbes Jahr wartete er auf seine Aufenthaltsgenehmigung. Erst danach durfte er am Sprachintensivkurs teilnehmen. Für ihn damals eine furchtbare Zeit: „Ich habe mich geschämt, dass ich mich als Erwachsener nicht ausdrücken konnte. Das war für mich das Schlimmste.“ Seit seiner Ankunft Ende 2015 hat sich Tawfeek sprachlich wie persönlich stark entwickelt. Dankbar ist er vor allem seiner Gastfamilie, die ihm in Magdeburg ein zweites Zuhause gab. Durch diverse Praktika, zunächst als Betreuer im Kindergarten, anschließend als Übersetzer beim Jugendamt, fand er Gefallen an der Sozialen Arbeit. Die eigene Fluchterfahrung ermutigte ihn zusätzlich zum Studium an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Tawfeek möchte seinem Heimatland mit seinem Wissen und den erlernten Fähigkeiten helfen. Ein erster Schritt ist bereits getan. Im Sommer brachte er seine Erfahrungen im Studienprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ein.

Wenige werden viele
Bereits 2015 legten Professorinnen und Professoren international den Grundstein für das Austauschprojekt, das vom Deutschen Akademischen Austauschdienst gefördert wird. Sie bewegte die Frage, wie man die Menschen in den Aufnahmeländern auf die anstehenden Herausforderungen vorbereiten könnte. Aus einem informellen Netzwerk entstand ein Forschungsverbund, der nicht nur das einmalige Studienangebot „Social Work for Migration and Refugees“ sowie Weiterbildungsmöglichkeiten an der German-Jordanian University schuf, sondern u. a. auch das Studienprojekt „Soziale Arbeit mit Geflüchteten“ ins Leben rief. „Es ist wichtig, Menschen und Bildungseinrichtungen vor Ort zu unterstützen und zu schulen. Damit können wir transnationale Bildungsexporte schaffen”, erklärt Projektleiter Rahim Hajji, Professor für Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

Gemeinsam mit der Hochschule Neubrandenburg, der jordanischen Al-Balqa´ University, der An-Najah National University in Palästina sowie Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft, der humanitären Hilfe und der Wohlfahrtshilfe entwickelte er verschiedene Workshops für Studierende und besuchte mit ihnen Institutionen der Sozialen Arbeit. Sie entwickelten Lösungen für die Probleme der alltäglichen Arbeit. Wie geht man in den einzelnen Ländern mit den Herausforderungen um? Welche Hilfe erhalten Geflüchtete? Welche Dienstleistungen sind von Nöten? Gespräche mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterin sowie Fachvorträge über Themen wie Vormundschaften vermittelten den Studierenden detaillierte Einblicke über die Gegebenheiten der einzelnen Länder. „Wir tragen dazu bei, dass Soziale Arbeit in den Ländern, in die die Menschen flüchten, professionalisiert wird. Deutschland ist auf einem guten Weg, doch auch wir müssen unsere Systeme weiter öffnen“, sagt Prof. Dr. Rahim Hajji und fordert: „Geflüchtete sollten beispielsweise unabhängig von ihrem Status Zugang zu Bildung, dem Arbeits- und Wohnungsmarkt erhalten.“

Fluchterfahrungen mit anderen teilen
Für Tawfeek Alsheikh war dies das erste große Studienprojekt, das ihn direkt mit seinen eigenen Erfahrungen konfrontierte. „Ich weiß, wie sich diese Menschen fühlen. Ich bin selbst ein Flüchtling“, erklärt Tawfeek. Auch er hielt einen Vortrag, sprach über ein Thema, um das er sonst einen großen Bogen macht: seine Flucht nach Deutschland. Die Reaktionen reichten vom stillen Schweigen bis zur festen Umarmung.

Anhand der Ergebnisse erarbeitete er zusammen mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Geflüchteten und über den Beitrag, den die Soziale Arbeit hierbei leisten kann. Im September präsentierten sie ihre Ergebnisse auf einer internationalen Konferenz und zeigten verschiedene Perspektiven auf. „Vor allem in Jordanien brauchen die Menschen dringend Hilfe. Die hohen Flüchtlingszahlen stellen seit Beginn der Krise eine große Herausforderung für das Land dar“, weiß Sahar Suleiman Al-Makhamreh, Projektpartnerin und Professorin für Social Work an der Al-Balqa´ Applied University. So sei die Bevölkerungszahl innerhalb kürzester Zeit von fünf Millionen auf elf Millionen Menschen um mehr als das Doppelte gestiegen. „Für ein Land mit schlechter Infrastruktur war das zunächst eine enorme Herausforderung. Plötzlich lastete großer Druck auf Bereiche wie Bildung, Wirtschaft und Gesundheit”, führt sie aus. Hinzu kommt: Im Vergleich zu anderen Ländern leben gerade einmal 17 Prozent der geflüchteten Menschen in Camps. Die meisten fanden in den Häusern der jordanischen Bevölkerung Zuflucht. „Jordanien ist ein sehr freundliches Land. Die Menschen teilen alles, was sie besitzen“, ist die Professorin besorgt und stolz zugleich.

Eine traurige Tradition
Dabei vergessen viele: Krieg und Flucht hat es seit jeher gegeben. So werden Palästina bereits seit 1948 aus ihrer Heimat vertrieben. Viele sind bis heute durch Traumata, Krankheiten und vor allem Angst gezeichnet. Der richtige Umgang ist hier besonders wichtig. „Es ist gut, dass wir Fachkräfte ausbilden, die verschiedene Methoden anwenden können und auch vor Ort nach Lösungen suchen. So können wir uns gemeinsam weiterentwickeln und das soziale System ausbauen”, erklärt Sahar Suleiman Al-Makhamreh.

Tawfeek Alsheikh macht aus der Not eine Tugend: „Ich spreche Deutsch und Arabisch, habe selbst eine Flucht miterlebt, ich weiß, wie schwierig diese Zeit sein kann und möchte anderen helfen, diese zu überstehen.“ Indes möchte er mit Vorurteilen aufräumen: „Ich selbst liebe die deutsche Kultur und bin sehr dankbar für alles, was das Land für mich getan hat und noch tun wird. Wenn ein anderer sich nicht benimmt, fällt es auch auf mich zurück. Es ist wichtig, zu verstehen, dass jeder von uns anders ist. Ich bin zwar selbst noch nicht perfekt integriert, aber ich bin stolz darauf, wie weit ich gekommen bin.“

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